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Goethes Erlkönig und das Kind im Manne

(Norbert Schultheis)

Rubrik: Interpretationen

Goethes Erlkönig ist wohl eines der bekanntesten Gedichte überhaupt, das auch weltweit Beachtung findet. In Schulen der unterschiedlichsten Ländern wird es behandelt und nicht nur die Kinder in deutschsprachigen Klassenzimmern müssen es auswendig lernen. Aber wo liegt die Faszination der Ballade begründet? Wodurch entsteht der Zauber, der gleichermaßen Künstler wie Naturwissenschaftler in den Bann der Poesie zieht, obwohl das Gedicht doch eine tragische Geschichte eines leidenden und schließlich sterbenden Knaben beschreibt? – Es ist wohl die Vielschichtigkeit und Tiefgründigkeit des Textes, der seine Leser auf unterschiedliche Lesearten etwas zutiefst Menschliches vermittelt.

Auf dieser Website habe ich schon auf eine Interpretation eines unbekannten Autors aufmerksam gemacht, der den Text als „Mahnmal gegen das Wegsehen, gegen Ignoranz und Unglauben“ deutet – diese gefiel mir wegen ihres aktuellen Signalcharakters sehr gut, aber ich will hier noch eine andere, persönlichere Deutungsweise aufzeigen: Für mich transportiert er einen urmenschlichen Konflikt, den Kampf zwischen ratio und emotio, der sowohl voller Leidenschaft im einzelnen Menschen herrscht, als auch authentisch die Epoche spürbar macht, in der er ausgetragen wurde, so u.a. in der Wendezeit vom „Sturm und Drang“ zur „Weimarer Klassik“.

Das Gedicht wurde 1782 verfasst, in der Auslaufzeit des Sturm und Drang und in der Anfangsphase der Weimarer Klassik – zu beiden hat Goethe maßgeblich beigetragen. Die Ballade selbst wird noch zum Sturm und Drang gerechnet, sein Schauspiel „Iphigenie auf Tauris“, in seiner prosaischen Urform 1779 vor dem Erlkönig verfasst, schon eher der Weimarer Klassik – aber beide stehen nicht prototypisch für ihre Epoche. Und genau diese Übergangszeit thematisiert der Erlkönig – historisch und vor allem auch ontogenetisch gesehen.

Erste Strophe:
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
Die Ballade beginnt mit der berühmten ersten Zeile „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“ – eine Allegorie auf die abkühlende Spätzeit der Epoche des Sturm und Drang, in der das Gefühlsleben die zentrale Stellung einnahm und sich gegen die überbordende Vernunftbetonung der Aufklärung richtete. Insofern ist der Erlkönig typisch für den Sturm und Drang, da er dem Sinnbild des „Originalgenies“ folgt, also den schöpferischen und ungebundenen Künstler in den Vordergrund stellt, der sich allein durch die „Magie“ der Natur mit all ihrer unmittelbaren Ästhetik inspirieren lässt und sich keiner „Regelpoetik“ unterwirft, welche zur Zeit der Aufklärung als eine Art Gebrauchsanleitung bestimmte, nach welchen Regeln die Poesie zu konstruieren sei. Selbst die frühen Gedichte von Goethe gelten daher auch als „etwas unlebendig und trocken“, obwohl er sich niemals vollends irgendwelchen künstlerischen Regeln unterwarf.

Die zweite Zeile „Es ist der Vater mit seinem Kind“ verdeutlicht die ratio-emotio-Dichotomie: Der Vater als Metapher für die Vernunft und das Kind stellvertretend für das Gefühl. Beide reiten auf einem Pferd, Sinnbild des ganzen Menschen als Träger von beiden Entitäten, das aber allein der Vater zügelt. Die beiden letzten Zeilen „Er hat den Knaben wohl in dem Arm“ und „er faßt ihn sicher, er hält ihn warm“ machen noch deutlicher, wer wem beherrscht und zu kontrollieren versucht: Es ist die Vernunft, die die Gefühle „sicher fasst“, sie „warm hält“, gleich so, als ob die Gefühle auf die Vernunft angewiesen wären. In dieser frühen Phase des Ritts, des fortlaufenden Lebens: kein Kinderspiel, viel mehr ein Spiel mit dem Feuer.

Zweite Strophe:
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlkönig mit Kron und Schweif? -
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. -
In der zweiten Strophe wird dies formal untermauert, die zweizeilige Äußerung des Kindes ist „umrahmt“ von der des Vaters. Hier geschieht aber noch etwas mehr: Das Kind macht die erste Erfahrung mit dem Erlkönig – man könnte auch sagen, die Gefühle begehren das erste Mal auf und wenden sich dem „König der Erlen“, also ihrer Natur zu. Der Vater (die Ratio) reagiert auf seine typische Weise, in dem er rationalisiert und dem Kind eine sachliche Schilderungen eines Naturereignisses liefert: „Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif“.

Dritte Strophe:
„Du liebes Kind, komm geh mit mir!
gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
manch bunte Blumen sind an dem Strand,
meine Mutter hat manch gülden Gewand.“
Die dritte Strophe ist durchzogen von den Lockrufen der Natur, die an die innere Gefühlswelt des Menschen appelliert, sich den Zwängen der Vernunft zu entreißen und sich dem „schönen Spiele“ hinzugeben und all dem, was Mutter Natur an Schönheit zu bieten hat.

An dieser Stelle möchte ich einen kleinen Exkurs in die freudsche Psychoanalyse einschlagen, die die zwei Prinzipien des Menschen sehr treffend umschreibt. Nach Sigmund Freud handelt es sich um zwei aufeinander folgende Denkweisen im Menschen, die die „eigengesetzliche Logik des Unbewussten“ beschreiben. Der erste Vorgang (deshalb auch als „Primärprozess“ betitelt) umfasst die Denkweise des sehr jungen Kindes, die auch im Erwachsenenalter weiterexistiert, dort aber vom „Sekundärprozess“ überschattet wird. Charakteristisch für den Primärprozess ist der Wunsch nach direkter Triebbefriedigung und die bedingungslose Hingabe zum Gefühlsleben sowie die Zeitlosigkeit und der „Fortfall der wachen Logik“, wie sie beispielhaft im Traum erlebt wird. Durch die besondere Fokussierung auf die eigene Bedürftigkeit wird dieser Prozess auch als „Lustprinzip“ umschrieben. Der Sekundärprozess soll den Primärprozess ablösen, wobei dieser aber nicht vollständig aufgegeben wird. Jener ist gekennzeichnet von logischen Urteilsbildungen, von rationalem Denken in zeitlichen Dimensionen. Aufgrund dieser Realitätsbezogenheit wird er auch als „Realitätsprinzip“ bezeichnet.

Die Freudianer sind der Ansicht, dass der Sekundärprozess die Denkweise des erwachsenen Menschen bestimmen soll unter Überwindung des Primärprozesses, der nur ontogenetisch von Bedeutung sei. Neurosen entstünden oft dort, wo dies nicht ausreichend gelingt und sprechen deshalb auch von Regressionen, die eine Ausweichhaltung vor den aktuellen Anforderungen des Lebens darstellten mit einer Art Rückgriff auf kindliche Verhaltensmuster.

Meiner Meinung nach verkennen die Freudianer die Wichtigkeit des Lustprinzips für die psychische Gesundheit des Menschen einerseits und für den kulturellen Fortschritt der Menschheit andererseits. Nur wenn sich Lust- und Realitätsprinzip im Menschen und in seiner Kultur die Waage halten, ist die beste individuelle und kulturelle Entwicklung gegeben. Die Kulturgeschichte zeigt, dass bis heute eine ständige Pendelbewegung zwischen diesen beiden Polen stattgefunden hat. Dass das psychoanalytische Konzept seit seiner Entstehung nur wenig an Aktualität eingebüßt hat, ist eher ein wichtiger Indikator dafür, wo sich das Pendel zur Zeit befindet als für seine generelle Bewährtheit. (In ihrer freudschen Urform wird die Psychoanalyse aber nur noch von den Allerwenigsten vertreten. Viele neue Aspekte und Erkenntnisse konnten sie bereichern und die mitunter doch sehr obskur anmutende patriarchalische Sexualorientiertheit von Sigmund Freud relativieren.)

Die Epoche des Sturm und Drang war, wie bereits gesagt, geprägt von einer starken Gefühlsbetonung, die durch das Ausleben der positiven Gefühlen auch eine Verstärkung der negativen Schattenseite mit sich brachte. In der vorangegangenen Zeit der Aufklärung bestand diese natürlich auch, jedoch wurde sie durch das vorherrschende Vernunftprinzip im Zaum gehalten – man könnte auch sagen „verdrängt“ oder „rationalisiert“, bestenfalls „intellektualisiert“ – und konnte nur wenig Wildwuchs betreiben. Als die kulturellen Abwehrmechanismen jedoch fielen, konnten die Autoren ihrem Gefühlstreiben freien Lauf lassen, das in Werken wie „Die Leiden des jungen Werthers“ musterhaft seine Niederschrift erhielt. Interessanterweise beschrieb Sigmund Freud die kulturellen Leistungen als Sublimierung von Triebwünschen – meines Erachtens (und seinen Dissidenten zufolge) schenkte er dabei der proaktiven Sinnstiftung und den Individuationsprozessen des Menschen nicht genügend Würdigung.

Goethe lebte vor Freud, jedoch war ihm diese Dichotomie durchaus bewusst, wahrscheinlich viel bewusster als ihm lieb war. Das Jahr 1782, in dem er den Erlkönig verfasste, gilt auch als Höhepunkt seiner Amtskarriere am Hofe des Herzogs von Weimar. Zu der Zeit schrieb er auch an seinem erst 1789 vollendeten Schauspiel Torquato Tasso, das von dem gleichnamigen Dichter und seinem Widerpart, dem Staatssekretär Antonio Montecatino, handelt, welche Goethes innere Zerrissenheit zwischen Lust- und Realitätsprinzip dramatisch widerspiegeln. Tasso lebt nach dem Motto „Erlaubt ist, was gefällt“, und Antonio verkörpert als Amtsträger wie kein anderer den Realitätssinn. Sie stehen sich unversöhnlich gegenüber; des einen Stärken sind des anderen Schwächen – und umgekehrt. Das Stück endet mit der Resignation des Poeten als reinen Poeten. Er erkennt den einstigen Gegenspieler als seinen Retter in der Not und unterwirft sich freimütig nun als ganzer Mensch dessen Lebensweise. Das Thema des Erlkönigs, so lautet ja auch meine These, ist genau der Kampf dieser Gegensätze, der schlussendlich mit dem Scheitern des vermeintlich Lebensuntüchtigeren endet. In der vierten Strophe des Gedichts bahnt sich diese Tragik an:

Vierte Strophe:
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
was Erlenkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
in dürren Blättern säuselt der Wind. -
Ein erneutes Mal wird dem Aufbegehren der Gefühle Einhalt durch die Vernunft geboten. Formal stehen die zwei Zeilen des Vaters nun gleichwertig den zwei Zeilen des Sohnes gegenüber und zur Erklärung des Vaters gesellt sich sein erster Befehl hinzu: „Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind“. Erklärungen allein reichen offensichtlich für die Gefühlskontrolle nicht mehr aus; der Kampf wird sichtbar.

Fünfte Strophe:
„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
meine Töchter führen den nächtlichen Reihn,
und wiegen und tanzen und singen dich ein.“
Die fünfte Strophe ähnelt sehr der dritten mit dem Zusatz einer geschlechtlichen Note. Der Sexualtrieb als drängender Naturinstinkt wird hier eingeführt mit der Gegenüberstellung des Knaben und der Töchter, des Männlichen und Weiblichen. Kulturhistorisch wird das männliche Prinzip von je her als das „vernünftige, logische und starke“ aufgewertet und das weibliche Prinzip als das „gefühlsbetonte, sensible und schwache“ diskreditiert. Insofern lässt sich die Schilderung der Geschlechterpolarität als Ausdrucksweise der Dualität von ratio und emotio verstehen, auch wenn Goethe den konträren Wertbeimessungen sicher nicht zustimmte.

Sechste Strophe:
Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düsteren Ort? -
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
es scheinen die alten Weiden so grau. -
Die innerliche Unruhe des Gefühlslebens verstärkt sich in der sechsten Strophe und trifft weiterhin auf Widerstand und Missverständnis des Vernunftdenkens. Die dunklen verbotenen Verlockungen der Natur werden als alte graue Weiden abgetan. Negative unkontrollierbare Gefühle entfalten sich; das andere Geschlecht wird als „düsterer Ort“ symbolisiert – wahrscheinlich eine Metapher für den Liebespein, den Goethe in jungen Jahren so dramatisch erfahren hatte und anschließend in der Figur des Werthers verarbeitete.

Siebte Strophe:
„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! -
Die siebte Strophe kann als Höhepunkt der Ballade gelten. Hier können die Gefühle nicht länger durch die Vernunft kontrolliert werden und sind der Natur, der sie primär angehören – also gewissermaßen sich selbst, schutzlos ausgeliefert. Der Mensch erlebt seine Gefühle in voller Intensität: seine Begierden (erste Zeile), seine Leidenschaften (zweite Zeile), aber vor allem seine damit verbundene Verletzbarkeit (dritte Zeile) und nicht zuletzt seinen Schmerz (vierte Zeile).

Achte Strophe:
Dem Vater grausets, er reitet geschwind,
er hält in den Armen das ächzende Kind,
erreicht den Hof mit Müh und Not;
in seinen Armen das Kind war tot.
In der achten Strophe wird das volle Ausmaß der menschlichen Tragik präsent. Der Mensch leidet dermaßen an seinen ausgebrochenen Gefühlen, dass er sie irgendwie abschalten muss: Der Tod des Kindes als Sinnbild für die Verdrängung der Gefühle. Die Gefühle sterben in den Armen der Vernunft, sie allein überlebt „mit Müh und Not“ an einem neuen sicheren Ort – hier ein Hof.

Auch Goethes Leben änderte sich an einem neuen Ort – hier ebenfalls ein Hof. Er überwand sein Gefühlschaos mit all seinen stürmischen und depressiven Phasen, vor allem aber seinen „Lebensekel“, als er Ende 1775 nach Weimar zog, wo am Hofe des Herzogs ein neuer Lebensabschnitt für ihn begann. Die Dialektik seiner seelischen Innenwelt mündete schließlich in eine Synthese von Vernunft und Gefühl, in eine „innere Solidität“, wie er es selbst später auf seiner Italienreise nannte. Dies aber weniger im Sinne einer „Aufhebung“ nach Hegel, denn Goethe verstand seine Emotionen nicht bloß als Antithese zu seiner Vernunft. Er folgte vielmehr in seinem pantheistisch geprägten Weltbild der identitätsphilosophischen These Spinozas, nach der „ein Affekt, der ein Leiden ist, aufhört, ein Leiden zu sein, sobald wir uns eine klare Idee von ihm bilden.“ Besonnenheit wurde zusehends seine neue Richtschnur, und er führte schon bald ein harmonischeres und mehr geregeltes Leben, in dem er seine Gefühle mäßigte und sie unter die Kontrolle seiner Vernunft stellte. Er widmete sich dafür der Klassik als Ausdruck eines vollkommenen Daseins und bediente sich vorzugsweise der griechischen und römischen Antike. Seine nun folgenden Werke handeln von Menschen, die nach Vollkommenheit streben. Er blieb bis zu seinem Lebensende in Weimar wohnen und wandte sich später auch den Naturwissenschaften zu; die aufkommende Romantik mit ihrer irrationalen Gefühlsbetonung lehnte er ab. Ein klassischer Sieg der Vernunft über die Gefühle…

So sollte man meinen – wenn man aber etwas genauer hinschaut, kann man leicht, wie in jeder Erzählung über ein sterbendes Kind, die Warnung herauslesen: „Gib Acht auf Dein Kind und beschütze es, so gut wie Du kannst, damit Dir nicht das gleiche widerfährt!“ So schimmert doch ein Hauch von sehnsüchtiger Reminiszenz aus seiner Werther-Zeit auch im Erlkönig durch. Der stärkste Motor für künstlerisches Schaffen ist doch sicher die Seelenpein eines Erwachsenen, wenn sie sich mit der Phantasie eines Kindes paart; diese explosive Mischung trieb auch Goethe an. Er trauert um den symbolischen Tod des Kindes in seiner Ballade auf sublime Art, denn er befürchtet den Verlust seiner leidenschaftlichen Einbildungskraft. Und er schaut auf seine expressive Vergangenheit mit ambivalentem Wehmut zurück: auf seine Zeiten nächtlichen Schwermuts genauso wie auf seine Zeiten stürmischen Hochmuts, also auf all seine rasenden Ritte durch Nacht und Wind, bei denen aber sein inneres Kind sich immer ungezügelt austoben konnte. Friedrich Nietzsche schriebt dazu passend in seinem Werk Menschliches, Allzumenschliches:
Die Leidenschaft lässt, wenn sie vorüber ist, eine dunkele Sehnsucht nach sich selber zurück und wirft im Verschwinden noch einen verführerischen Blick zu. Es muss doch eine Art von Lust gewährt haben, mit ihrer Geisel geschlagen worden zu sein. Die mässigeren Empfindungen erscheinen dagegen schaal; man will, wie es scheint, die heftigere Unlust noch lieber als die matte Lust.
Goethes einstiger Freund Johann Gottfried Herder, der die Epoche des Sturm und Drang mitprägte und Goethe in seiner frühen Schaffensphase stark beeinflusste, meinte einmal: „Die Stimme des Herzens ist ausschlaggebend für die vernünftige Entscheidung“, was etwa zwei Jahrhunderte später die Neurowissenschaften mit ihren technisch-nüchternen Begrifflichkeiten ganz ähnlich beschrieb. Und Friedrich Nietzsche mahnte in seinem Zarathustra: „Im echten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen. Auf, ihr Frauen, so entdeckt mir doch das Kind im Manne!“ Der fantasiereiche Jugendbuchautor Michael Ende führte diesen Gedanken dann noch konsequent zu Ende: „Wenn wir ganz und gar aufgehört haben, Kinder zu sein, dann sind wir schon tot.“ Abschließen möchte ich den Gedankengang mit Erich Kästner, der ihn so wunderbar und eindringlich auf den Punkt brachte:
Lasst euch die Kindheit nicht austreiben!
Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab
wie einen alten Hut.
Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer,
die nicht mehr gilt.
Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst,
die sie allmählich aufessen,
und was gegessen worden ist,
existiert nicht mehr.
[...]
Früher waren sie Kinder,
dann wurden sie Erwachsene,
aber was sind sie nun?
Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.
All dies spürte auch Goethe in seinem Herzen und ließ sein inneres Kind weiterleben; und darum verdanken wir ihm ein Schaffensrepertoire von unschlagbarem kulturellen Wert.

Lang lebe das „Kind im Manne“, lang lebe der Künstlermensch!


Norbert Schultheis, Bonn, 2012, überarbeitete Fassung 2017

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